Familie Wochenmark

Josef Wochenmark und sein Gedicht „Bestehet die Probe“
Von Michaela TÄUBEL und Nora PALUSCHZAK | Stand: 2. April 2019 | Lizenz: CC BY

1. Die jüdische Familie Wochenmark
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in ganz Deutschland Synagogen geplündert und angezündet. Die Gmünder Synagoge (heute: Kreissparkasse Ostalb, Sparkassenplatz 1) brannte nicht. Dennoch wurde auch hier randaliert und das Inventar beschlagnahmt. Unter den beschlagnahmten Gegenständen befanden sich auch einige Schriftstücke, die heute im Gmünder Stadtarchiv überliefert sind. Eines davon ist das hier vorliegende Gedicht „Bestehet die Probe“ von Dr. Josef Wochenmark, der in Schwäbisch Gmünd von 1934 bis 1940 Oberlehrer und damit Vorsteher der jüdischen Gemeinde Gmünds war.
Josef Wochenmark wurde 1880 in Rozwadów in Galizien (heute: Republik Polen) geboren. Im Jahr 1916 heiratete er Bella geb. Freudenthal aus Erfurt und bekam bald darauf zwei Söhne mit ihr, Alfred (1917) und Arnold (1921). Nach Schwäbisch Gmünd, in die Uferstraße, zog die Familie, laut Einwohnermeldekarte, am 27. August 1934. (ABBILDUNGEN: 2019-04-02_02_01_-Schwäbisch Gmünd, StadtA, EMK, Sonderserie „Jüdische Einwohner“ und 2019-04-02_02_02_-Schwäbisch Gmünd, StadtA, EMK, Sonderserie „Jüdische Einwohner“)
Die beiden Söhne der Familie Wochenmark emigrierten bereits Mitte der 1930er Jahre nach Basel und später in die USA. Arnold Marque (früher: Wochenmark) lebt heute mit seiner Frau in San Francisco. Durch ihn bekommen wir einen näheren Einblick in die Familiengeschichte und das Leben seines Vaters. Arnold beschreibt seinen Vater als einen sehr intelligenten Mann, der viel las, aber als Vorbeter, Seelsorger und Lehrer der jüdischen Gemeinde auch schwer beschäftigt war. Auf die Allgemein- und religiöse Bildung seiner Kinder legte er großen Wert. Dies entsprach unter anderem auch der Absicht des Vaters, den selbstempfundenen „Makel“ ihrer jüdischen Herkunft zu überwinden und die Identität der Familie als gebildete deutsche Juden zu stärken. Diese Einstellung hob ihn von vielen Zeitgenossen jüdischer Herkunft deutlich ab.
Seit dem Machtantritt Hitlers bestimmte die neue politische und gesellschaftliche Situation die Diskussionsrunden am Tisch der Familie Wochenmark. Arnold erinnert sich, dass sein Vater der Überzeugung gewesen sei, dass Hitler nicht lange „dran ist, der will nicht arbeiten, der will Reichspräsident werden, das wird eine Sache von ein paar Wochen, höchstens Monaten werden, bis der wieder weg ist“ – wie er sich täuschen sollte! Josef Wochenmark glaubte, dass man mit vollkommener Emanzipation der Juden den Antisemitismus mildern könne. Und so wurde kein Jiddisch mehr gesprochen und auch kein Kaftan mehr angelegt. Aber all diese „Vorkehrungen“ halfen der jüdischen Bevölkerung nicht. Die Familie musste eine Entscheidung treffen: In Deutschland bleiben oder ins Ausland fliehen? Arnold Wochenmark, der nicht länger auf eine Entscheidung der Eltern warten wollte, flüchtete nach Basel zu seinem Bruder und folgte ihm dann 1946 nach New York.
Nach der Reichspogromnacht 1938 wurde die Synagoge, der wichtigste Arbeitsplatz von Wochenmark, durch den sogenannten „Entjudungsvertrag“ an die Sparkasse verkauft. In Schwäbisch Gmünd gab es seit 1938 auch keine jüdischen Geschäfte mehr. Auch Josef und Bella Wochenmark mussten schließlich 1939 ihr Haus räumen und mit vielen anderen in ein leerstehendes Haus in der Königsturmstraße 16 zwangsumsiedeln. Am 7. Januar 1940 wurde Josef laut Einwohnermeldekarte schließlich nach Stuttgart versetzt, da die Jüdische Gemeinde Gmünds endgültig aufgelöst wurde.
Dort erreichte er mit 61 Jahren aber immerhin noch sein angestrebtes Lebensziel, nämlich orthodoxer Rabbiner zu werden. In Stuttgart war Dr. Josef Wochenmark bis 1943 auch der letzte jüdische Rabbiner. Und während die Söhne mehrfach an dem Versuch scheiterten, die Familie in der Schweiz wieder zusammenzuführen, spitzte sich die Lage immer weiter zu. Bald schon saßen Josef und Bella Wochenmark in Stuttgart fest. Im März 1943 erhielt das Ehepaar ein Schreiben, welches ihr Schicksal besiegeln sollte – die sofortige Aufforderung zur Deportation. Dieser versuchten sie am 8. März durch Freitod zu entkommen.
Josef Wochenmark verstarb in Folge des Pulsaderschnitts, doch seine Frau Bella überlebte schwerverletzt. Bella Wochenmark wurde im April 1943 zunächst nach Theresienstadt und am 16. Oktober 1944 schließlich nach Auschwitz deportiert. Dort wurde sie noch im selben Jahr ermordet.

2. Das Gedicht „Bestehet die Probe“ (Edition)
Bestehet die Probe
Von Dr. J. Wochenmark

1.
Es bestand einst die Probe
Jakobs Geschlecht,
das Gott sich zum Lobe
erzählt hat als Knecht.

2.
Pharao mit Spott
es plagte und schlug
doch wandelte Gott
in Segen den Fluch

3.
Es bestand schwere Proben
Judas Geschlecht,
als mit Wüten und loben
sich der Syrer erfrecht‘.

4.
Zu schänden das ererbte
heiligste Gut,
als die Erde sich färbte
mit Märtyrerblut.

5.
Die Probe bestanden
trotz hassvoller Glut
all die Verbannten
im Welten-Galut

6.
Die Probe besteht
drum in heutiger Not,
da Sturm uns umwehet,
und Blitz uns umloht.

7.
Der Herr über Wetter
und Feindesgewalt
ist unser Erretter,
befreiet uns bald

8.
Drum nicht verzaget,
das Haupt nicht gesenkt,
singet und saget:
Der Herr unser gedenkt.
(ABBILDUNGEN: 2019-04-02_02_03_Schwäbisch Gmünd, StadtA, S 4-R 1-F 4 und 2019-04-02_02_04_Schwäbisch Gmünd, StadtA, S 4-R 1-F 4)

3. Analyse und Interpretation
Die dargestellte Quelle (Signatur: Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, S 4–R 1–F 4) ist ein Lied oder Gedicht, welches von Josef Wochenmark verfasst wurde. Es befasst sich mit dem Nationalsozialismus als „Probe“ für das jüdische Volk und soll der jüdischen Gemeinde Mut zusprechen. Das Gedicht ist maschinenschriftlich verfasst und enthält farbliche und handschriftliche Hinweise zum Vortragsstil, wie „leiser“ und „Steigerung“. Über die Hintergründe des Schriftstücks ist wenig bekannt. Man kann aber davon ausgehen, dass es beschlagnahmt wurde und wohl aus dem Jahr 1938 stammt, auch wenn keine Datierung angegeben ist. Das Gedicht besteht aus acht Strophen.
Was die Quelle besonders interessant macht, ist, dass sie aus der jüdischen Gemeinde Gmünds selbst stammt und sich auch an diese richtet. Der Inhalt des Gedichts spiegelt die verzweifelte Lage der Gmünder Juden wider. Der Titel „Bestehet die Probe“ gibt bereits einen ersten Hinweis auf den Inhalt: In Verbindung zu vergangenen Proben wird der Nationalsozialismus als eine neue, von Gott gesandte Probe des jüdischen Volkes bezeichnet. Die NS-Zeit nur als Probe, die bestanden werden muss, darzustellen, könnte vor dem Hintergrund geschehen sein, dass Wochenmark seiner Gemeinde Mut zusprechen wollte.
Der Inhalt des Gedichts kann in mehrere Abschnitte gegliedert werden. Die Strophen 1–5 beschreiben frühere alttestamentliche Proben des jüdischen Volkes, die sechste Strophe die aktuelle Probe, den Nationalsozialismus. Die beiden letzten Strophen richten sich dann direkt an die Gmünder Gemeinde und versuchen, dieser Hoffnung zu schenken.
Die ersten beiden Strophen beziehen sich auf die Probe des Geschlechts Jakobs. Dieses flüchtete, von Moses geführt, vor dem Pharao Ägyptens und der Versklavung nach Kanaan, um dort ein besseres Leben zu beginnen. In Verbindung zum Nationalsozialismus kann davon ausgegangen werden, dass Wochenmark diese Probe wählte, um seiner Gemeinde zu verdeutlichen, dass nach schlimmen Zeiten auch wieder bessere Zeiten folgen werden. Außerdem deutet das Wort „Probe“ an, dass nur wer die Zeit durchsteht, letztendlich gerettet werden kann. Der ägyptische Pharao kann als Metapher für das nationalsozialistische Regime gesehen werden. Wie dieses, behandelte auch er die Juden mit Spott und unterdrückte sie.
Die dritte und vierte Strophe beziehen sich auf eine weitere Probe des jüdischen Volkes: den Kampf gegen die Syrer. Hierbei bezieht sich Wochenmark wohl auf die im Alten Testament erwähnten Kämpfe der Syrer gegen Israel, welche über mehrere Generationen andauerten. In der vierten Strophe wird beschrieben, wie das „ererbte heiligste Gut“ durch die Syrer geschändet wurde und „die Erde sich färbte mit Märtyrerblut“. Auch die Nationalsozialisten schändeten und beschlagnahmten, vor allem in der Reichspogromnacht, jüdische Glaubensobjekte und Synagogen.
Die sechste Strophe handelt anschließend von der aktuellen Probe der Gmünder Gemeinde, nämlich die konkrete Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Hierfür verwendet Wochenmark die Metapher eines umwehenden Sturms und Blitzen, um die sich zuspitzende, ausweglose Lage der Juden in Deutschland zu beschreiben.
In den letzten Strophen versucht Wochenmark seinen Lesern oder Zuhörern trotz der aussichtslosen Lage Hoffnung zu machen. Er schreibt, dass Gott das jüdische Volk bald retten würde und auch durch diese neue Probe hinein in eine bessere Zeit führen wird. Damit dies geschieht, soll die jüdische Gemeinde Gmünds „nicht verzag[en]“ und singen, dass Gott für sie da sei. Dass Wochenmark davon ausgeht, dass der Nationalsozialismus bald überstanden ist, kann damit zusammenhängen, dass er, laut seinem Sohn, zumindest am Anfang davon ausging, dass sich Hitler nicht lange an der Macht halten würde. Diese Hoffnung hat er in sein Gedicht einfließen lassen. Außerdem sollten die deutschen Juden „das Haupt nicht gesenkt“ halten. Dies steht symbolisch dafür, dass die jüdische Gemeinde sich nicht verstecken, sondern trotz der Bedrohung stolz auf ihren Glauben sein soll. Wochenmark beschreibt Gott als den „Herr über [das] Wetter“. Damit bezieht er sich auf die Metapher des Nationalsozialismus als Sturm, welcher überstanden werden muss. Die letzte Zeile des Gedichts („Der Herr unser gedenkt“) ist mehrfach rot unterstrichen. Falls Wochenmark dies selbst tat, kann wohl davon ausgegangen werden, dass diese Zeile besonders hervorzuheben ist und für die Gemeinde besonders wichtig war, um die schwierigen Zeiten zu überstehen. Das Hauptziel des Gedichts ist es daher der jüdischen Gemeinde Mut zuzusprechen.
Besonders interessant ist die Rhetorik, die Wochenmark in seinem Gedicht nutzt. Diese ist mehrfach an die des deutschen Kaiserreichs und des Nationalsozialismus angelehnt; so wird in der sechsten Strophe beispielsweise vom „umlohend[en]“ „Blitz“ gesprochen und in der vierten Strophe ist vom „schänden“ des „heiligsten Guts“ die Rede. Außerdem greift Wochenmark in der vierten Strophe zu dem christlich-abendländisch geprägten Begriff „Märtyrerblut“. Der Grund für die Nutzung dieser Begrifflichkeiten könnte sein, dass Wochenmark als Ostjude geboren wurde und, laut seinem Sohn, viel Wert auf die deutsche Sprache und Gepflogenheiten legte, um trotz seines jüdischen Glaubens als ‚deutsch‘ wahrgenommen zu werden. Diese Anpassung an die deutsche Kultur kann daher auch in seinem Gedicht gesehen werden. Außerdem war Wochenmark lange davon überzeugt, dass eine Assimilation die einzige Möglichkeit gegen den aufkeimenden Antisemitismus sei. Diese Werte scheint er so verinnerlicht zu haben, dass er diese auch noch Jahre später in sein Gedicht eingebaute.

4. Quellen und Literatur
- Schwäbisch Gmünd, StadtA, S 4–R 1-F 4
- Schwäbisch Gmünd, StadtA, Einwohnermeldekartei, Sonderserie „Jüdische Einwohner“
- Schwäbisch Gmünd, StadtA, C02 Zeitgeschichtliche Sammlung, Sachen, Juden
- SEIDEL, Ortrud: Mut zur Erinnerung. Geschichte der Gmünder Juden. Eine persönliche Spurensuche, Schwäbisch Gmünd 1999.
- ULMER, Martin: Neue Heimat nach 13 Jahren Fluchtodyssee. Auf den Spuren von Arnold und Johanna Marque, in: Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.), Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden, Stuttgart 1995, S. 319–344.

 

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